Innerstaatlichen Einflussmöglichkeiten gestärkt
Zunächst wurden die innerstaatlichen Einflussmöglichkeiten der nationalen Parlamente in nahezu allen Mitgliedstaaten verstärkt. In Deutschland haben sich Bundestag und Bundesrat seit Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts umfangreiche und wirksame Kontroll- und Mitwirkungsrechte gegenüber der Bundesregierung erkämpft und nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stetig ausgebaut.
Einflussnahme auf europäischer Ebene
Auf europäischer Ebene hat der Vertrag von Lissabon dem Drängen der nationalen Parlamente entsprochen und deren einflussreichere Rolle erstmals auch im europäischen Vertragsrecht anerkannt und festgeschrieben. Ansprechpartner der nationalen Parlamente ist hier in erster Linie die Europäische Kommission. Die EU-Kommission ihrerseits sucht seit 2006 im Rahmen eines sogenannten Politischen Dialogs den direkten Kontakt und den inhaltlichen politischen Austausch mit den nationalen Parlamenten. Auch das Europäische Parlament hat seine Kontakte mit den nationalen Parlamenten auf vielen Ebenen und in sehr unterschiedlichen Formaten intensiviert.
Trotz dieser neuen Einflusskanäle, der vielfältigen Mitwirkungsmöglichkeiten und des sichtbaren Ausbaus der Kooperations- und Dialogformen zwischen den EU-Organen und den nationalen Parlamenten bleibt dennoch die Frage offen, welche konkrete Rolle die nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren und bei der Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses spielen sollen und können.
Möglichkeiten Europapolitik zu kontrollieren
Das derzeitige Instrumentarium der nationalen Parlamente zur Mitwirkung an und zur Kontrolle der Europapolitik ist vornehmlich reaktiv und defensiv. Sie verfügen nach dem Vertrag von Lissabon über zwei Kontrollinstrumente – die politisch-abwehrende Rüge und die juristisch-sanktionierende Klage vor dem EuGH.
Gegenüber der eigenen Regierung sind die proaktiven, politikgestaltenden Möglichkeiten der europapolitischen Mitwirkung potenziell sicherlich größer. Allerdings ist die politische Autonomie zur Bewertung der nationalen Europapolitik bei Parlamentariern der Regierungsfraktionen begrenzt. Die Nutzung des europapolitischen Instrumentariums wird durch die Mehrheitsfraktionen in den nationalen Parlamenten vornehmlich in Abstimmung (zumeist wohl auch in Übereinstimmung) mit der eigenen Regierung erfolgen. Im Ergebnis dürften deshalb neue, unabhängige und innovative Initiativen aus den nationalen Parlamenten in der Europapolitik selten bleiben. Häufiger genutzt werden dürfte sicherlich die Möglichkeit zur Prüfung und Rüge der Einhaltung der europäischen Kompetenzordnung, die der Vertrag von Lissabon den nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentariern bietet. Das Interesse am Schutz und der Abgrenzung der eigenen Gestaltungsspielräume innerhalb der mitgliedsstaatlichen politischen Ordnung ist für die nationalen Parlamentarier auf den ersten Blick für die eigene politische Bedeutsamkeit vorrangig und zudem leichter um- und durchzusetzen. Die Alternative wäre ein zeit- und arbeitsintensives, im Ergebnis ungewisses und kaum für die Darstellung der eigenen politischen Ziele und Interessen im eigenen Wahlkreis nutzbares europäisches Engagement.
Einbindung der Nationalen Parlamente in den Politikzyklus
Und dennoch ist die Beteiligung und die Einbindung der nationalen Parlamente in den europäischen Politikzyklus unbedingt erforderlich und muss über die reaktiv-defensiven Möglichkeiten hinaus weiter ausgebaut werden. Zum einen sind es noch immer die nationalen Parlamente, die den Politikdiskurs auch über europapolitische Fragen und die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses dominieren und lenken. Die Öffentlichkeits- und die Übermittlungsfunktion der nationalen Politikarena wird und kann (noch) nicht durch das Europäische Parlament übernommen werden. Zum anderen bleiben die nationalen Parlamente als Legitimations- und Kontrollorgan für die mitgliedsstaatlichen Entscheidungen in der Brüsseler Politikarena unverzichtbar.
Unabhängigkeit in der Bewertung europäischer Gesetzgebung
Hierzu müssen sich die nationalen Parlamente nicht nur mehr Autonomie von der eigenen Regierung erkämpfen, vielmehr müssen sie auch die erforderlichen Strukturen und die Expertise entwickeln, um sich aktiv mit eigenen Positionen und Argumenten in die europapolitischen Debatten einbringen und behaupten zu können. Nur wenn die nationalen Parlamente sich in ihrer Bewertung der europäischen Gesetzgebung unabhängig machen von den Positionen der nationalen Regierungen und eigene Kriterien entwickeln, dann werden sie als Akteure respektiert und ihre Positionen auch ernsthaft geprüft und angenommen werden. Und wenn sie sich diese Autonomie und den Respekt für ihre Positionen erarbeitet haben, werden auch eigene proaktive, politikgestaltende Initiativen aus dem Kreis der nationalen Parlamente über das erforderliche politische Gewicht verfügen, um von den EU-Organen und allen nationalen Administrationen wahrgenommen zu werden. Hierfür sollte das Verständnis für sowie die Kenntnis und das Interesse an den besonderen Formen und Wegen des europäischen Politikzyklus und des europäischen Gesetzgebungsverfahrens grundsätzlich bei allen nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentariern bestehen - nicht nur bei den ausgesprochenen Europapolitikern, sondern bei allen nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentariern und in allen parlamentarischen Gremien.
Interparlamentarische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene
Um auf europäischer Ebene wahrgenommen zu werden und um sich als autonome politische Akteure behaupten zu können, wird die inter-parlamentarische Zusammenarbeit von herausragender Bedeutung sein. Nur wenn die nationalen Parlamente ein gemeinsames Verständnis des Subsidiaritätsprinzips und gemeinsame Prüfschritte und Bewertungsindikatoren entwickeln, können sie ihr neues Recht der Subsidiaritätsprüfung auch wirklich gegenüber den EU-Organen und gegenüber ihrer jeweiligen Regierung anwenden. Hierzu muss nicht nur die inhaltliche Arbeit an den europäischen Rechtssetzungsvorschlägen intensiviert werden, hierzu müssen auch die institutionellen Strukturen in den nationalen Parlamenten geschaffen, die Vorfeldarbeit in Brüssel verstärkt, die administrative Ver- und Bearbeitung der Vorgänge aus Brüssel ausgebaut werden. Der Deutsche Bundestag oder auch das dänische Folketing sind auf diesem Weg sicherlich schon sehr weit gekommen; aber die nationalen Parlamente aller Mitgliedstaaten müssen sich auf diesen Weg begeben.
Wille zur Beteiligung
Mit der frühzeitigen Einbeziehung der nationalen Parlamente in den europapolitischen Willensbildungsprozess muss also der Wille der nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentariern einhergehen, sich aktiv und inhaltlich sachkundig an den europäischen Entscheidungsprozessen beteiligen zu wollen. Im Ergebnis bedeutet ein solcher enger Verflechtungsprozess die Bereitschaft, Verantwortung für den europäischen Integrationsprozess übernehmen zu wollen und zu können, wie sie auch vom Bundesverfassungsgericht von Bundestag und Bundesrat gefordert wurde. Ein solches Verständnis von verantwortungsbereiter, politisch gestaltender und über die defensive Abwehr hinaus gehende europäische Mitwirkung der nationalen Parlamente wird zweifellos ein zentrales Element werden, um die Demokratie in Europa weiter auszubauen und zu festigen.
---
Peter Becker, Stiftung Wissenschaft und Politik
Dossier: Europas gemeinsame Zukunft
Die EU steckt nicht nur in einer Schuldenkrise, sondern auch in einer Vertrauens- und Demokratiekrise. Gerade jetzt ist eine breite öffentliche Debatte über alternative Vorschläge zur Zukunft Europas gefragt. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte mit dem Webdossier zu dieser Debatte beitragen.Dossier
Zur Zukunft der EU
Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.